Fußballclub, Schützenvereine und Profi-Demonstranten: Petra Bahr, Regionalbischöfin von Hannover, protestiert in einer bunten Menge gegen Rechtsextremismus. Und fragt sich nun: Lässt sich aus dieser spontanen Zusammenkunft ein breites soziales Bündnis schmieden?
"Das war also meine erste Demonstration", sagt der ältere Herr im blauen Mantel. Und in der Stimme schwingt Stolz, norddeutsch abgedimmt. "Papa, man kann ja auch nicht bis Mitte 80 Sofa-Protestant sein", antwortet die junge Frau neben ihm. Neben den beiden packen ein paar junge Leute in Schwarz ihre Plakate ein. Das sind die Profi-Demonstranten. Mit ihren FCKAFD-Plakaten passen sie in die Stadt von Hugo Ball, dem Dichter des Dadaismus. Wer sich an diesem Samstag in Hannover zusammengetan hat, geht sonst seine eigenen Wege. Einzelne parteipolitische Spitzenvertreter mischen sich unter die Banner von Gruppen, zusammen geben sie ein buntes Bild ab. Kirchenfahnen wehen neben Schulemblemen, sogar Schützenvereine und der große Fußballclub zeigen Flagge.
Die Stimmung ist leicht, trotz eiskalter Füße, in vielem bildet diese Demonstration die "Mitte der Gesellschaft" ab. Diese Mitte ist kein dichter Kreis, sie franst an den Rändern aus. Was hier bunt ist, könnte am Abendbrottisch durchaus kontrovers diskutiert werden. Die Rhetorik von der "bunten Gesellschaft" verschleiert manchmal die Spannungen, die die Farbskala erzeugt.
Heiß würde es woanders vermutlich hergehen zwischen den jungen Eltern ohne Kitaplatz und der Landwirtin, die vorgestern noch ihren Trecker vor dem Landtag parkte. Ich erkenne Ärztinnen, die sich nach ihrer Nachtschicht aufmachten, zwei alte Damen mit ihren Rollatoren, Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte, Teenager, die sich an Straßenlaternen hochgeschraubt haben und Videos drehen.
35.000 Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen, politischen Ansichten, Musikgeschmäckern, Berufen, Erfahrungen: Niemand fühlt sich hier wie ein Mitglied der Weißen Rose, wie eine Zeitung polemisch unterstellt, die meisten fühlen sich vermutlich nicht einmal besonders mutig, höchstens jene mit Platzangst. Die Polizeipräsenz beruhigt, die Krankenwagen bahnen sich im Schritttempo eine Gasse in der Menge, um für den Notfall vorbereitet zu sein.
Die Stimmung ist rücksichtsvoll, zugewandt, vermutlich zugewandter, als träfe man sich in kleineren Räumen. Alle scheinen sie zeigen zu wollen: "Wir schweigen nicht, wenn völkisches Denken offenkundig wird, mit seiner Sehnsucht nach autoritären Strukturen, nach einem anderen Recht, einem anderen Staat."
Es ist so, als wären an diesem Wochenende Menschen für eine Selbstverständlichkeit auf die Straße gegangen, die plötzlich nicht mehr selbstverständlich zu sein scheint: die Verfassung des Gemeinwesens. Das ist pathetisch, aber vermutlich ist Pathos genau das, was an der Zeit ist.
Die, die am Wochenende zwei Stunden in der Kälte standen, haben sich gemeinsam erinnert, dass Demokratie anstrengend ist, aber eben die Freiheit garantiert, von der eine Gesellschaft der Verschiedenen lebt. Es ist so, als würde das, was lange als normal galt, nicht mehr bloß infrage, sondern auf dem Spiel stehen: nicht nur für die mit ungewöhnlichem Familiennamen, anderer Hautfarbe, die von der rechtsradikalen, verfassungsfeindlichen Partei jetzt angegriffen werden.
Demonstrieren ist leicht, schreiben einige Kommentatoren. Als würden diejenigen, die auf die Straße gehen, etwas anderes behaupten! Aber diese beeindruckenden Zahlen sind es ja nicht allein, die zeigen, dass die Zivilgesellschaft wacher ist als befürchtet. Sicher zeigen die Drohnenaufnahmen der Menschenmassen auch eine Bewegung, die gegen die eigene Ohnmacht demonstriert, gegen das Welteindunklungsgefühl. Viele haben deshalb schon auf dem Rückweg gefragt: Was machen wir jetzt? Wie bleiben wir zusammen und passen auf, dass sich dieser Ungeist der Ausgrenzung und des Menschenhasses nicht tiefer in unserem Alltag einnistet?
Bilden diese Demonstrationen den Auftakt, das eigentlich Selbstverständliche zu schützen und zu verteidigen, dann wäre mit diesem kalten Winterwochenende etwas gewonnen: weniger Durchsetzung der eigenen Gruppeninteressen, sondern mehr Sinn für die Verletzlichkeit des Ganzen, das vielleicht im Auseinanderfallen nun wieder zueinanderstrebt. Das wollen wir hoffen!
Petra Bahr schreibt über Sinn- und Ethikfragen. Sie mag Ambivalenzen jenseits von schwarz und weiß. Bahr ist evangelische Regionalbischöfin in Hannover und Mitglied des Deutschen Ethikrats.
24. Januar 2024, erschienen in Christ und Welt